C’est une révolution!

Foto: Lars Opstad / Oslo World

Der Weg des Griot: Toumani Diabatés Vision einer neuen afro-europäischen Kultur

Scheuklappen kennt er nicht – mal spielt er mit Blueslegende Taj Mahal, mal mit Pop-Ikone Björk, mal mit dem Jazzman Roswell Rudd oder gar – sein jüngster Coup – dem ehrwürdigen London Symphony Orchestra. Er kommt aus dem Mali, lebt an der Elfenbeinküste und wird auf der ganzen Welt als einer der besten Kora-Spieler der Gegenwart gefeiert. Toumani Diabaté entstammt einer sehr alten Griot-Familie von Kora Spielern. In immer neuen Begegnungen hat er gezeigt, dass die archaisch anmutende Harfenlaute, die seit der frühen Neuzeit in Westafrika eigentlich als Begleitinstrument zum Gesang gespielt wird, ein absolut gegenwärtiger Partner für alle modernen Genres sein kann.

Mit der Haltung des Jazzmusikers verbindet Toumani Diabaté die orale afrikanische Musikkultur. Der Kora-Spieler hat seine Themen im Kopf und improvisiert darüber frei – darin unterscheidet er sich nicht vom Jazzer. Die reiche Verzierungskunst, die Improvisationen folgen ganz seiner Inituition. Mit einigem Recht verweist er darauf, dass ja auch in Blues und Jazz dieses afrikanische Erbe steckt.

Seine Botschaft ist, der europäischen Welt zu zeigen, dass die afrikanische Kultur nicht nur am Anfang der menschlichen Zivilisation steht, sondern eine eigenständige, traditionsreiche Hochkultur besitzt, die die europäische Kultur bereichern und vielleicht sogar aus einer Sackgasse führen kann. Und dafür sucht er die Anerkennung des alten Europa. Das höchste kulturelle Ansehen in der europäischen Zivilisation besitzt aber die Orchestermusik, die sich ja gleichzeitig mit dem Kolonialismus entwickelt hat. Und so ist es von besonderer Bedeutung, wenn die Nachfahren der Sklaven in der Hauptstadt des Empire ein gemeinsames Projekt mit dem London Symphony Orchestra anstoßen, um auf der Grundlage ihrer westafrikanischen Musik ein neues symphonisches Werk zu erarbeiten.

Eine delikate Aufgabe für die Arrangeure, die den Brückenschlag vom westafrikanischen zum europäischen Tonsystem schaffen mussten, von einer Welt ohne Harmonien und Akkorde zu den Streichergruppen der europäischen Klassik – ohne dabei die afrikanische Musik durch etwas Streicher-Zuckerguss zu banalisieren. Was auf den ersten Blick dann vielleicht doch etwas glatt und harmlos daherzukommen scheint, entfaltet beim aufmerksamen Zuhören einen enormen Sog. Diabaté und seine Gruppe stehen klar im Fokus aller Tracks und ihre Präsenz scheint bis ins letzte Geigenpult auszustrahlen und die Londoner Musiker zu elektrisieren. Die Gewänder, die die Arrangeure den ausgewählten Kora-Stücken verpasst haben, sind luftige, dezente Kommentare, die dem fremden und unbekannten seinen Raum lassen. Mit großer Selbstverständlichkeit agiert Diabaté im Zentrum der Bühne und besticht durch gelassene Virtuosität und flirrende Klangfarben.

Am International Jazz Day, dem 30.04.2021, erreichen wir Maestro Toumani Diabaté telefonisch an der Côte d’Ivoire. Was haben Sie gestern gemacht? Wo haben sie das letzte Mal live gespielt?

Gestern habe ich in Abidjan in einem großen Hotel mit meinem Sohn gespielt – er spielt auch die Kora – bei der Eröffnung der “Wara Tour 2021 ” – einer großen Bewegung, an der sich unter der Schirmherrschaft vieler Persönlichkeiten aus der Politik auch zahlreiche Künstler unter dem Motto “Tous les artistes disent: NON!” beteiligen. Sie werben dafür, die Kinder in die Schulen zu schicken, statt sie auf den Kakaoplantagen ihrer Eltern arbeiten zu lassen. Wenn die Kinder des Kakaobauers wieder Bauern werden sollen und keine Schulbildung erhalten, ist das schlecht für die Entwicklung des Landes. Sie können in den Ferien auf den Feldern arbeiten, um der Familie zu helfen, das ist Teil unserer Tradition. Aber ansonsten ist es wichtig, dass sie die Schule besuchen und eine Ausbildung erhalten. An die besten Schülern verteilen wir Computer und Tablets. Abou Nidal hat den Song “Va à l’école mon enfant!” dafür geschrieben und ich habe in diesem Jahr die künstlerische Patenschaft übernommen.

Ist dieses große soziale Engagement die Aktualisierung des Selbstverständnisses des Griot Musikers in unserer heutigen Zeit?

Ganz genau, das ist die Arbeit des Griot. Das ist sehr wichtig, Wir haben in der Sahara-Region die Terroristen, die Vertriebenen und es gibt die, die auswandern möchten. Es gibt viele Probleme, es gibt Corona, wie überall. Es ist sehr wichtig dass die Künstler ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen, um für die Probleme zu sensibilisieren, für die Umweltkrise, für den Klimawandel, für die Rechte der Kinder, vor allem dass die Mädchen zur Schule gehen dürfen, für die Frauenrechte. Das ist sehr wichtig im heutigen Leben.

Ich bin sieben Mal um die Welt gereist – ich habe in Deutschland, in Neuseeland, in Australien, in Japan, in den Vereinigten Staaten gearbeitet und es ist wichtig, auch in Afrika zu arbeiten und an solchen Aktionen teilzunehmen, auf die ich sehr stolz bin.

Sie stammen mitten aus einer lebendigen und reichen Kultur. Was hat sie angezogen, sich für die anderen Kulturen in der Welt zu interessieren? Mit ganz anderen Musikern zusammenzuarbeiten?

Danke für diese Frage! – Ich habe die Kora in meiner Familie gefunden. Und die Musik der Kora ist älter als meine Familie. Man wird als Griot in eine solche Familie hineingeboren, man kann es nicht werden. Und eine Griot-Familie ist eine Schule – die Schule des Lebens, in der es keine Stifte und kein Papier gibt – hier wird die Kultur der mündlichen Überlieferung gelebt. Eine Übertragung vom Vater auf den Sohn. Und ich bin aus aus der 71. Generation vom Vater zum Sohn hervorgegangen. Meine Kinder sind bereits die 72. Generation. Als ich die Kora zu spielen begann hatte ich keinen Lehrmeister, die Kora war ein Geschenk für mich, ein Spielzeug, weil ich ein Koraspieler bin. Ich danke Gott dafür. Und als ich zu spielen begann, wollte ich sofort eine Tür in die Welt für die Kora öffnen: une porte universelle.

YOU HAVE TO BE OPEN MIND Ich interessiere mich für andere Musikrichtungen, aber was mich wirklich dazu bewegt hat, auf andere zuzugehen um mit ihnen zu spielen, war dies: Wenn die Griots mit ihrer Musik in Afrika bleiben, werden die westlichen Ländern nie etwas von der afrikanischen Musikkultur erfahren. Es ist sehr wichtig, dass es diese Kommunikation, diesen Austausch gibt. Denn du musst nicht Deutsch, Japanisch oder Mandé sprechen, um miteinander musizieren zu können. Die Musik hat ihre eigene Sprache geschaffen – und die geht so:
(singt:) do re mi fa sol la si do si la sol fa mi re do …! Diese Sprache ist dieselbe in Berlin, in Abidjan, in Sydney und in Tokio. Es ist dieselbe Sprache auf einer Gitarre oder auf einer Kora, einem Klavier, überall! Ich habe sehr viele große Musiker kennengelernt und mein Ehrgeiz war es, mit jedem spielen zu können. Aber ich habe niemals die Musik und die Kompositionen der Griots mit ihnen gespielt. Und mit Taj Mahal habe ich auch nicht die Musik von Taj Mahal oder mit Björk die Musik von Björk gespielt, das könnte ich gar nicht. Die Kora ist ein Mandingue-Instrument und spricht die Mandingue-Sprache, sie spricht nicht deutsch, nicht spanisch, nicht japanisch. Aber ich habe die Musik der Kora gespielt, und zusammen ist aus der Musik dieser Künstler und der Kora jeweils eine ganz neue Musik entstanden.

Meine Idee war, mich mit der Kora aus Afrika herauszubewegen, um anderen großen Kulturen zu begegnen, wie zum Beispiel der sehr alten Flamenco Kultur – darum habe ich mit den Brüdern Ketama eine CD gemacht. Das gleiche mit Taj Mahal für den Blues.

Und als ich eine Platte mit dem Jazzposaunisten Roswell Rudd gespielt habe, war die Musik nicht, was man Jazz nennt. Sobald es sich um Improvisation dreht, nennen die Leute es Jazz. – Aber Jazz und auch Blues haben ihre Wurzeln in Afrika, da gibt es auch schon die Improvisation. Ich improvisiere sehr viel auf der Kora. Das Fundament der afrikanischen Musik ist die Improvisation. Wir haben unsere eigene Art und Weise zu improvisieren. Aber wenn ich mit Jazzmusikern zusammenspiele, gibt es keinen Unterschied beim Improvisieren. Sie könnten unsere Musik von daher ebenso gut Jazz nennen.

Mit all den Begegnungen, die ich hatte, verbinde ich die Botschaft und den Rat, dass der Jazz sich mehr Afrika zuwenden und öffnen muss, um sich noch weiter zu entwickeln. Der Norden und der Süden brauchen den Austausch und das gegenseitige Verständnis. Wir haben sehr viele Musikrichtungen in Afrika, die noch keine Namen haben. Wir kennen ihre Bezeichnung, aber die westlichen Länder kennen diese Stile nicht.

Beim Projekt des Albums Kôrôlén ging es nicht um eine Plattenproduktion, sondern um ein Konzert. 2008 kam ich nach London und traf den Dirigenten Clark Rundel, weil ich nun mit einem Sinfonieorchester spielen wollte. Ich wollte der Welt beweisen, dass Afrika eine klassische Musik hat und dass die afrikanische klassische Musik viel älter als die klassische Musik von Bach und Mozart und Beethoven ist. Der Begriff „Kôrôlén“ steht für das „hohe, ehrwürdige Alter“ dieser Kunst. Ich habe auch viel Respekt vor Bach und Beethoven. Der Dirigent schlug vor, in dem Album, das ich mit Gitarrist Ali Farka Touré gemacht habe und in meinem Soloalbum nach geeigneten Stücken zu suchen. Und dann wollte ich zwei Arrangeure dafür haben – einen jüngeren und einen älteren, damit die Vergangenheit der Gegenwart begegnen kann. Damit hatten wir das Repertoire und die Arrangements für das Orchester beisammen. Dann bin ich am Tag es Konzerts mit meinen Musikern nach London gefahren. Ich traf das London Symphony Orchestra zum ersten Mal und wir probten nur eine Stunde vor dem Konzert. Weder sie noch ich hatten uns je vorher gehört oder gesehen. Nach dem Konzert hatte ich den Eindruck, alle Musiker waren mit dem Ergebnis zufrieden – und ich war es auch. Und so kam mir die Idee einer CD Produktion. Denn die Aufnahme war etwas Neues.

Die Musiker des Sinfonieorchesters spielten alle aus ihrer Partitur, aber weder Toumani Diabaté noch seine afrikanischen Mitmusiker hatten das kleinste Stück Papier vor sich liegen. Wir mussten nichts lesen, um spielen zu können. Es war ein Segen und eine Revolution, denn das London Symphony Orchester hat hier zum ersten Mal Musik mit einem traditionellen afrikanischen Muslim gespielt Die Kompositionen waren die Musik der Mandé. Aber die Harmonien und Melodien gehören dem LSO und wurden von den beiden Arrangeuren Nico Muhly und Ian Gardiner geschrieben.

Harmonien und Akkorde, wie sie in der Klassik oder auch im Jazz gebräuchlich sind, gehören nicht zu unsrem Stil. Das gibt es kaum in der westafrikanischen Musik. Eine oder zwei Noten in unserem System können drei, vier, fünf Akkorde ersetzen. Dieses System macht die Dinge einfacher. Aber wenn sich Kora und die Harmonien der Streicherstimmen des Orchesters begegnen ist es ganz wunderbar. Und die Kora improvisiert hier ganz frei und ohne Begrenzung. Alles war live, es gibt keine Overdubs im Studio und keine Korrekturen. Die Musik ist eine göttliche Eingebung, die mir widerfährt, daher kann ich sie nicht von Noten ablesen, wir folgen dem göttlichen Gesetz, ich bin nur ein Ausführender.

Und so ist diese Musik gleichermaßen zur Musik der Kora der Griots und zur Musik des LSO geworden. Allen Orchestern auf der ganzen Welt, die das heute zusammen mit anderen Kora-Musikern spielen wollen, denen gehört sie nun. Die Afrikaner und die Europäer haben zusammen eine neue Musik erschaffen auf der Basis der afrikanischen Musik. Das ist sehr wichtig, das ist eine Revolution, so etwas hat es noch nicht gegeben. Nicht einfach symphonische Musik mit einem Solo-Instrument, sondern klassische Musik, die auf traditioneller afrikanischer Musik basiert. Der Traum, den ich hatte, ist Wirklichkeit geworden.

Denn ich glaube, die heutige Welt hat einen Augenblick des Verstehens, der Kommunikation und des Friedens nötig. Jetzt ist nicht mehr der Zeitpunkt, um über den Ersten oder den Zweiten Weltkrieg, die Versklavung der Schwarzen, über die Dinge, die man auf dem afrikanischen Kontinent gestohlen hat, zu sprechen oder über die Einwanderung. Ich will, dass man die Dinge weiterentwickelt – für den Frieden, für zukünftige Generationen und auch für unsere eigene. Das Beispiel Covid 19 zeigt es: es ist überall, in Deutschland, wie in Afrika, wie unter den Arabern – in allen Staaten – und wir müssen gemeinsam handeln. Wir müssen damit aufhören, fremdenfeindliche Vorschläge zu machen. Wir müssen mit der Xenophobie, diesem Rassismus aufhören, mit den Religionskriegen. Wir müssen damit aufhören, die Frauen zu misshandeln. Wir müssen damit aufhören, die Kindern zu misshandeln. Wir müssen damit aufhören, die Umwelt zu misshandeln.

Darum geht es. Wir müssen miteinander spielen, miteinander Kultur produzieren, wie einen Brückenkopf, der uns weiterführt. Man muss nicht deutsch können, um mit einem deutschen Musiker, nicht Bambara um mit einem malischen Musiker zu spielen. Die Leute wundern sich, dass Toumani Diabaté die deutsche Rock’n’Roll-Band Scorpions liebt. Alle sagen, das kann doch nicht wahr sein, wie ist das möglich. Aber es ist einfach, weil ich zuhöre und das Recht habe, damit zufrieden zu sein. Wenn ich „Holy Days“ von den Scorpions höre, entdecke ich darin etwas Wichtiges, das mich tief berührt. Das kann man in jeder Musik finden.

Mein Problem im Leben ist es nicht, die Nummer Eins, der größte Kora-Spieler der Welt, zu sein, sondern ich will nur ein sehr guter Kora Spieler sein, der ein OPEN MIND hat, der Liebe und Frieden sucht. Es geht nicht um wirtschaftlichen Erfolg – das macht nicht alles aus. Deutschland ist ein wirtschaftlich sehr erfolgreiches Land, aber es gibt dennoch viele Probleme. Auch Afrika kann Europa viele Dinge lehren und hat Europa viel zu geben. Afrika war die Wiege der Menschheit und ist noch immer ein Kontinent, auf dem die Kultur lebendig ist. Es ist der ökonomisch ärmste, aber der kulturell reichste Kontinent, die Nummer Eins.

Ich liebe diese Musik, liebe es mit anderen in der ganzen Welt zu spielen, jegliche Musik, die mich zu bewegen vermag, die spirituell ist. Liebe alle Begegnungen, die die Welt in Frieden vereinen. Ich richte nicht, ich möchte nur nützlich sein und spielen – und zusammen feiern.

Wenn die klassischen Orchester in der Welt ihren Bach und Beethoven leid geworden sind, können sie jetzt afrikanische Musik spielen. Afrika kann ihnen viele Dinge zeigen. Begabte Arrangeure wie Hans Lüdemann könnten noch weitere afrikanischen Musik für Orchester arrangieren. Dann könnten wir das europäische Repertoire um eine neue afrikanisch-europäische Musik von heute erweitern. Die europäische Musik ist bereit – und die afrikanischen Musiker sind es auch.

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